Auf der Tribüne / Der Mann mit Schal und Hut
Letzte Woche war ich auf einem Ball – einem dieser tollen Ereignisse, wo die Frauen wie Prinzessinnen oder Fürstinnen wirken, wo die Männer wieder mal die guten Sitten herauskehren und als vollendete Gentlemen auftreten – wo die Gesellschaft ganz den Eindruck einer Szene aus dem Prinzenschloß in Aschenputtel macht. Dort, wo einfach alles paßt und das Glück (scheinbar) unendlich wirkt.
In unserem Saal fand als Mitternachtseinlage ein Ausschnitt eines Theaters statt, dessen Flair und Wirkung mich an eine Geschichte aus dem Forum „Nacht“ einer Mailbox erinnert hat – eine Geschichte mit dem Titel „Theater“. Die Wirkung der Menschen um mich herum, deren Kleidung und ihres Umgangs miteinander, auch die Stimmung, die Düfte und anderen Eindrücke – das hatte im Zusammenhang mit der Szene auf der Bühne eine unfreiwillig erotisierende Wirkung.
Das einzige, was nicht so dazu paßte, war ein Mann – ein etwas einsamer, aber sehr glücklich wirkender Mann mit einem beigen Schal und einem grauen Hut auf seinem Kopf. Er paßte nicht in dieses perfekte Bild von Ausgelassenheit, Schönheit und – doch auch ein wenig – Oberflächlichkeit. Sein Eindruck war anders – völlig anders, schon fast „häßlich“ zu nenne. Aber dieser Mann hatte fast mehr Wirkung auf mich, als alles andere rund herum – wie er die Bühne beobachtete, an den Lippen der Schauspielerinnen und Schauspieler hing – es schien fast, als ob da ein Stück seines Lebens vor ihm gespielt wurde, er sich erinnerte, wie er selbst jung und verliebt war, so wie die beiden Schauspieler auf der Bühne.
Ganz versunken und verloren genoß er, was ihm da geboten wurde, während rings um ihn ein kleiner Kreis der anderen Ballgäste entstand, weil ihm doch keiner zu nahe kommen wollte – so, als ob er eine ansteckende Krankheit hätte. Insgeheim habe ich diesen Mann bewundert, seine Ruhe und seine Fähigkeit, all diese Schönheit und den Flair einfach zu genießen – die Ablehnung und die schlechten Witze seiner Umgebung nicht wahrzunehmen, einfach nur er selbst zu sein.
Sicherlich hat sich der eine oder andere Gast gewundert, wie er hinein gekommen ist, hinein in ihre heile Welt, in der doch ausschließlich die Reichen und die Schönen Zutritt bekommen sollten – aber mir hat es einfach gefallen, diesen Mann zu beobachten – und seine Wirkung auf die Menschen um ihn herum. Er hat sich niemandem aufgedrängt, er war einfach nur da und hat es genossen, was sich ihm auf diesem Ball an Eindrücken dargestellt hat.
Obwohl ich dieses „außer die Gesellschaft stellen“ nie selbst tun möchte, diese seine Fähigkeit das Schöne zu genießen und einfach das zu sein, was man ist, die hätte ich auch gerne ein wenig mehr. Denn für mich hat sich das wirkliche Stück nicht auf der Bühne abgespielt – für mich war die Tribüne überall dort, wo der Mann war – der Mann mit Schal und Hut. Denn er hatte mehr Ausstrahlung, mehr Flair und Lebensfähigkeit als all diese ausschließlich auf äußere Schönheit bedachten Menschen ringsherum. Er war für mich einfach ein Mensch, der mehr Stolz besaß, als all die anderen, die am Morgen, wenn sie aufstehen, erst mal zum Spiegel laufen müssen, um ihre Maske aufzusetzen, damit nur ja niemand erkennt, daß sie auch nur Menschen sind.
Nur durch seine (äußere) Häßlichkeit hat er bewirkt, daß viele dieser Faschingslarven ihre Wirkung verloren haben, daß die Menschen selbst hervorgetreten sind – er war einfach nur da und dadurch haben andere ihre Maske ablegen müssen, sich neben ihm als Menschen zu erkennen geben müssen. Es war zwar nicht erschreckend, aber viele waren nicht mehr über, nach der Demaskierung. Er war einer davon. Dabei war er nicht mal so schlecht gekleidet ….
GF © 10.02.1997