Ein Wintermärchen
Erwartet und doch überraschend kam heute der erste Schnee – alle Jahre wieder stauen sich die Straßen zu und sind die Öffentlichen von „Umsteigern“ überfüllt, die ihr Auto doch nicht rechtzeitig auf den Winter vorbereitet haben und nun mit langem Gesicht auf alternativen Wegen in die Arbeit hetzen.
In dieser Kombination aus vorweihnachtlicher Stimmung, griesgrämiger Umgebung und morgendlicher Verschlafenheit bin ich auch selbst unterwegs gewesen, um wie jeden Tag auch selbst meinen Arbeitsplatz zu erreichen. Bei einer roten Ampel habe ich, selbst neben dem Autobus stehend, durch die beschlagenen Scheiben dann wieder ein bekanntes Gesicht entdeckt – eine alte Jugendliebe.
Zwischen all dem grau in grau, all den unlustigen Mienen und dem allmorgendlichen Frust erschien sie mir plötzlich noch schöner, noch fraulicher und noch näher, als sie es damals gewesen war. Sie sah mich ebenfalls durch die Scheiben und schien mich nicht ganz zu erkennen. Bei der Station gleich nach der Ampel stieg sie aus, wohl um festzustellen, welcher Name zu diesem bekannten Gesicht gehöre.
Nachdem wir uns begrüßt hatten und wieder „aneinander“ erinnerten, beschlossen wir, noch auf einen Kaffee zu gehen – bei diesem Wetter hatten wir beide die einfachste Ausrede fürs zu spät kommen. In einem kleinen Lokal an der nächsten Ecke legten wir zuerst die dicken Wintermäntel ab und setzten uns dann an einen Tisch in einer kleinen Nische. Sie erzählte mir, daß sie in der Zwischenzeit verheiratet gewesen und auch schon wieder geschieden sei, zwei kleine Kinder habe und endlich wieder eine Arbeit gefunden hatte.
Die ganze Zeit ließ sie mich nicht aus ihren Augen, sondern blickte mich mit ihrem grünblauen Blick offen und in zärtlicher Erinnerung an, so daß ich schließlich meine Hand in die Mitte des Tisches bewegte. Ohne ihren Blick abzuwenden kam sie mir entgegen und schließlich trafen sich unsere Hände in der Mitte. Wenn jemand einen Fotoapparat auf uns gerichtet hätte, so wäre der Film sicher überbelichtet, denn es hat ganz schön geblitzt dabei!
Zärtlich streichelte sie mit ihrem Daumen meinen Handrücken, während ich ihre Finger einzeln erforschte. Mit Verwunderung stellte ich fest, daß sie noch immer ihren Ehering trug und fragte sie danach. Ein schalkhaftes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie meinte „das ist nur eine Schutzmaßnahme, damit ich nicht immer von fremden Männern wie dir ganz einfach als Freiwild betrachtet werde.“. Warm und weich fühlte sich ihre Hand an, und während sie dies sagte, streichelte sie weiter meine Hand.
Der Kaffee war inzwischen ausgetrunken, auch die zweite Tasse neigte sich dem Ende zu – doch immer noch saßen wir in dieser Nische, wollten beide nicht zur Arbeit sondern erinnerten uns gemeinsam an die Vergangenheit. Die Minuten vergingen, es war bereits fast Mittag, als wir dann doch endlich beschlossen, das Lokal wieder zu verlassen.
Inzwischen hatte der Streudienst die Straßen wieder frei geräumt, nur die Bäume am Straßenrand waren noch voller Schnee und erfüllten uns mit romantischen Gedanken. So beschlossen wir, doch nicht mehr in die Arbeit zu fahren sondern nahmen einfach den nächsten Bus auf einen nahe gelegenen Berg. Bei der Endstation war außer uns beiden niemand mehr im Bus, wo daß wir die ganze weiße Pracht ringsherum ganz alleine genießen konnten.
Wir spazierten durch den Schnee, balgten uns wie Kinder und versanken ganz in unseren Gefühlen. Inmitten eines großen Blätterhaufens mit einer ganz dünnen Schneekuppe legten wir uns schließlich dann hin und genossen einfach die Nähe des anderen, begannen uns leidenschaftlich zu küssen. Immer heftiger wurde unser Verlangen, immer mehr suchten wir nach Öffnungen in der dicken Bekleidung, um uns möglichst nahe zu sein.
Plötzlich ertönte ein lautes Hupen hinter mir und riß mich aus meinen Träumen, die Ampel schien schon lange wieder grün zu sein, doch ich stand immer noch davor und blockierte den Weg. Der Autobus war ebenfalls schon hinter der nächsten Kurve verschwunden und niemand stand an der Station. Trotzdem war mir wärmer als vorher, ärgerte ich mich nicht über das Hupen hinter mir sondern betrachtete die weißen Bäume am Straßenrand mit ganz anderen Augen. Sicherlich würde ich jetzt noch später in die Firma kommen, aber die Türe des kleinen Café an der Ecke schwang gerade erst zu und irgendwie hatte ich das Gefühl, doch hinein gehen zu müssen um nachzusehen, wer gerade dahinter verschwunden war ….
Falls es wen interessiert: Ich war an diesem Tag dann nicht mehr arbeiten ![]()
GF © 26.11.1996